München, 12.02.2003
Dreieinhalb Jahrhunderte durchlebt Virginia Woolfs androgynes Phantasiegeschöpf
Orlando - knapp eineinhalb Stunden lang erweckte die Schauspielerin Sissy
Höfferer diese Romanfigur vergangenen Donnerstag mit ihrer Stimme zum Leben.*
Anlaß dafür war die aktuelle
Produktion des Münchner hörverlag(es) verbunden mit einer Einladung für alle Interessierten in
die Pinakothek der Moderne. Knapp zwei Monate nach der Hörspiel-Präsentation
von Thomas Manns "Zauberberg" am 12. Dezember vergangenen Jahres, stand die
diesmalige Lesung im Auditorium ganz im Zeichen der englischen
Schriftstellerin. Geboren am 25. Januar 1882 in London, als Kind
einer wohlhabenden Intellektuellen-Familie, avancierte Virginia Woolf erst
relativ spät - am Ende der zwanziger Jahre - zu einer berühmten Autorin; in
diesem Zeitraum entsteht auch der Gedanke zu ihrem größten schriftstellerischen
Erfolg. "Olando", ein Buch, von dem sie selber sagte, daß es zu schreiben sie
entspannen, es zu verwirklichen eine Ruhepause für den Kopf bedeuten würde. Um
so erstaunlicher sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen Atmosphären, die
Woolf in diesem durchaus satirischen als auch humorvollen Werk schafft. Sie
läßt verschiedene Epochen Großbritanniens lebendig werden, wie selbst
historische Darstellungen es nicht vermögen und schickt ihre Hauptfigur, der
sie eine fiktive Biographie auf den Leib
schneidert, auf eine mehr als 400 Jahre lang andauernde Reise.
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Der literarische
Streifzug Orlandos beginnt als schöner 16jähriger Jüngling, Dichter und
Günstlings Elisabeths I. und endet, nach mehreren Inkarnationen und
Geschlechtswandlungen, 1928, in der Gegenwart, in der Orlando schließlich eine
erfolgreiche Dichterin ist, die einen Literaturpreis erhält. Die Komplexität des Romans
läßt erahnen, wie schwierig sich die Umsetzung eines gedruckten Buches in ein
sog. "Hörbuch" wohl oftmals gestaltet. Interessant ist in diesem Zusammenhang,
daß Virginia Woolf 1927, also kurz vor der Veröffentlichung von "Orlando", zum
ersten Mal im Radio spricht. Was heute als wertvoller "genetischer
Fingerabdruck" (Claudia Baumhöver, Verlegerin der hörverlag) gilt, der den Zuhörer ganz nahe an die Autorin herankommen
läßt, war für diese damals jedoch nicht mehr als ein Gefühl der Enttäuschung
gegenüber dem neuen Medium - das Radio erfüllte ihre Wünsche nicht. Wenn, so Baumhöver, ein Dreivierteljahrhundert nach der
Erstveröffentlichung Sissy Höfferer "durch ihre unsichtbare Präsenz" und ihre
Fähigkeit, Orlando manchmal "fast durchsichtig zu sprechen", Woolfs Geschöpf
neues Leben einhaucht, dann steht hinter dieser Figur nicht primär die
Schriftstellerin selber, sondern eine Schauspielerin, die sich, ähnlich wie die
Romanfigur, nie hat festlegen lassen und damit dem Zuhörer
nicht nur den Raum, sondern auch die Möglichkeit läßt, Virginia Woolf
vollkommen neu zu entdecken.
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