Poetry Slam im großen Schauspielhaus der Kammerspiele,
das liest sich ein wenig so wie die Red Hot Chilli Peppers in der Philharmonie.
Wenn man erfahren will, wie es zu dieser ungewöhnlichen Kombination gekommen
ist, trifft man sich am besten mit einem der Begründer der Münchner
Poetry-Slam-Szene, dem 32-jährigen Rayl Patzak, ein großer, glatzköpfiger
Workaholic mit tiefer, sonorer Stimme. Zum Interviewtermin bringt er sich
vorsichtshalber gleich zwei Schachteln Lucky Strike mit. Zwischen den
Zügen erzählt er von ihrem ersten Poetry Slam im Substanz am 8. Februar 1996 (der
allererste in München fand bereits zwei Jahre früher statt). „Wer auf die Bühne
wollte, konnte sich auf einer offenen Liste eintragen. Pro Wettkampf zehn
Dichter, jeder hatte zehn Minuten Zeit.“ Das Publikum, etwa 250 Gäste,
saß größtenteils auf dem Boden und entschied per Applausabstimmung, wer
Slam-Champ des Abends sein sollte. Auch wenn sich seitdem viele Spielarten des
Poetry-Slams herausgebildet haben, ist der antik-demokratische Grundcharakter
derselbe geblieben. Der Mensch auf der Bühne versucht durch eine
möglichst freie und mitreißende Performance, das Auditorium für sich zu
gewinnen. Dieses hebt oder senkt den Daumen. So einfach, so brutal. „Die
ersten zwei Jahre waren ein Kampf“, bilanziert Patzak und nippt am Cappuccino.
Auf der Bühne mehr Gesellen als Meister, im Geldbeutel mehr Kleingeld als
Scheine. Patzak und sein Schulfreund und Coorganisator Ko Bylanzky brauchten
schon „eine gehörige Portion Selbstmordgeist, um weiterzumachen“. In den
Folgejahren zahlte sich ihre Ausdauer aus. Nach und nach holten sie
professionelle Poetry-Slammer ins Substanz. Die Qualität der Wettkampfbeiträge
stieg beträchtlich. „Mit bis zu 400 Gästen war der Laden voll wie ein
Rolling-Stones-Konzert“, so Patzak. Ohnmachtsanfälle im Substanzgedränge
gehörten zur Normalität, auch Kuriositäten wie eine halbnackte
Wettkampfteilnehmerin traten zu Tage. München wurde zum Zentrum der deutschen
Slambewegung, Patzak und Bylanzky sorgten für Niveaustandards im
deutschsprachigen Slamraum. Irgendwann im Sommer 2002 machte sich auch
Björn Bicker, Anfang 30 und Dramaturg bei den Kammerspielen, auf den Weg in die
Ruppertstraße 28, wo Nachwuchstalente gegen Profipoeten andichteten. Als er
Patzak und Bylanzky fragte, ob sie Interesse hätten, den Dichterwettstreit in
den Kammerspielen steigen zu lassen, sagten die beiden erstmal nein.
Stattdessen erarbeiteten sie zu dritt ein neues Konzept namens „Dead Or
Alive“, in dem fünf Schauspieler mit Gedichten toter Poeten gegen fünf
Slam-Champions aus deutschen Vorentscheidungen antreten sollten. „Dead Or Alive“
lief vergangenes Jahr in der Jutierhalle so gut, dass Kammerspiel-Intendant
Frank Baumbauer vorschlug, die Sache „ins große Haus“ zu bringen.
Offenbar ist es sehr wichtig, wenn nicht sogar notwendig, dass sich „die
Kammerspiele für jüngere Leute öffnen“, wie Dramaturg Bicker bestätigt. Man
halte Ausschau nach neuen Formen von Textpräsentation und Spielweisen, um
bislang theaterfremdes Publikum anzuziehen. Im Falle von „Dead Or Alive“ (heute,
20 Uhr, ausverkauft) schreckt die Intendanz der Kammerspiele sogar nicht davor
zurück, „das große Jugendstilhaus freizulegen wie einen hohlen Zahn“, sagt
Bicker. Bestuhlung raus, DJs rein – so lautet kurzgefasst die Vorgabe für den
heutigen Abend. Einer, der dann im Team der Lebenden auf der Bühne
stehen wird, ist der Berliner Szeneheld Sebastian Krämer. Am Telefon kann man
sich kaum vorstellen, dass dieses Stimmchen dem Double-National-Slam-Champ von
2001 und 2003 gehören soll. Krämer berichtet von seinem „Scheinbar“-Slam in
Schöneberg, eine Wettkampfreihe in gediegenem Varietérahmen mit Pausenpianist.
„Ich will Literatur zum Unterhaltungsevent machen, und da ist mir eine
gemütliche Theateratmosphäre lieber als verrauchte Undergroundkneipen“, sagt
Krämer. Langfristig habe man so auch bessere Chancen, von der „Feuilletonszene“
wahrgenommen zu werden. In den USA übrigens, der Wiege der Bewegung,
erzielt derzeit die „Def Poetry Jam“-Fernsehshow erstaunliche Einschaltquoten
zur besten Sendezeit (auf HBO). Auch der Erfolg einer ähnlich gemachten
Broadwayshow weist auf den kommerziellen Durchbruch der Poetry Slammer hin.
Gute Zeiten also für Rayl Patzak, der in seinem dicken Terminkalender
blättern muss, damit er keine seiner regelmäßigen Münchner Veranstaltungen
vergisst: Word Up im Atomic Cafe, Hörsalon 60 im Funky Kitchen und nicht zuletzt
die Lausch Lounge im Werkraum der Kammerspiele, die am 28. Februar Premiere hat.
Dort sollen internationale Slam-Poeten, junge Autoren und Schauspieler mit
Rezitationsshows in Wohnzimmeratmosphäre auftreten. |