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München, 20.02.2004

 

Poetry Slam

Reden ist Gold

Poetry Slams erobern die Hochkultur – die Kammerspiele räumen für ihre Gala heute sogar das Schauspielhaus aus.

Von David Weigend

 

Poetry Slam im großen Schauspielhaus der Kammerspiele, das liest sich ein wenig so wie die Red Hot Chilli Peppers in der Philharmonie. Wenn man erfahren will, wie es zu dieser ungewöhnlichen Kombination gekommen ist, trifft man sich am besten mit einem der Begründer der Münchner Poetry-Slam-Szene, dem 32-jährigen Rayl Patzak, ein großer, glatzköpfiger Workaholic mit tiefer, sonorer Stimme. Zum Interviewtermin bringt er sich vorsichtshalber gleich zwei Schachteln Lucky Strike mit.
Zwischen den Zügen erzählt er von ihrem ersten Poetry Slam im Substanz am 8. Februar 1996 (der allererste in München fand bereits zwei Jahre früher statt). „Wer auf die Bühne wollte, konnte sich auf einer offenen Liste eintragen. Pro Wettkampf zehn Dichter, jeder hatte zehn Minuten Zeit.“
Das Publikum, etwa 250 Gäste, saß größtenteils auf dem Boden und entschied per Applausabstimmung, wer Slam-Champ des Abends sein sollte. Auch wenn sich seitdem viele Spielarten des Poetry-Slams herausgebildet haben, ist der antik-demokratische Grundcharakter derselbe geblieben.
Der Mensch auf der Bühne versucht durch eine möglichst freie und mitreißende Performance, das Auditorium für sich zu gewinnen. Dieses hebt oder senkt den Daumen. So einfach, so brutal.
„Die ersten zwei Jahre waren ein Kampf“, bilanziert Patzak und nippt am Cappuccino. Auf der Bühne mehr Gesellen als Meister, im Geldbeutel mehr Kleingeld als Scheine. Patzak und sein Schulfreund und Coorganisator Ko Bylanzky brauchten schon „eine gehörige Portion Selbstmordgeist, um weiterzumachen“. In den Folgejahren zahlte sich ihre Ausdauer aus.
Nach und nach holten sie professionelle Poetry-Slammer ins Substanz. Die Qualität der Wettkampfbeiträge stieg beträchtlich. „Mit bis zu 400 Gästen war der Laden voll wie ein Rolling-Stones-Konzert“, so Patzak.
Ohnmachtsanfälle im Substanzgedränge gehörten zur Normalität, auch Kuriositäten wie eine halbnackte Wettkampfteilnehmerin traten zu Tage. München wurde zum Zentrum der deutschen Slambewegung, Patzak und Bylanzky sorgten für Niveaustandards im deutschsprachigen Slamraum.
Irgendwann im Sommer 2002 machte sich auch Björn Bicker, Anfang 30 und Dramaturg bei den Kammerspielen, auf den Weg in die Ruppertstraße 28, wo Nachwuchstalente gegen Profipoeten andichteten. Als er Patzak und Bylanzky fragte, ob sie Interesse hätten, den Dichterwettstreit in den Kammerspielen steigen zu lassen, sagten die beiden erstmal nein.
Stattdessen erarbeiteten sie zu dritt ein neues Konzept namens „Dead Or Alive“, in dem fünf Schauspieler mit Gedichten toter Poeten gegen fünf Slam-Champions aus deutschen Vorentscheidungen antreten sollten. „Dead Or Alive“ lief vergangenes Jahr in der Jutierhalle so gut, dass Kammerspiel-Intendant Frank Baumbauer vorschlug, die Sache „ins große Haus“ zu bringen.
Offenbar ist es sehr wichtig, wenn nicht sogar notwendig, dass sich „die Kammerspiele für jüngere Leute öffnen“, wie Dramaturg Bicker bestätigt. Man halte Ausschau nach neuen Formen von Textpräsentation und Spielweisen, um bislang theaterfremdes Publikum anzuziehen. Im Falle von „Dead Or Alive“ (heute, 20 Uhr, ausverkauft) schreckt die Intendanz der Kammerspiele sogar nicht davor zurück, „das große Jugendstilhaus freizulegen wie einen hohlen Zahn“, sagt Bicker. Bestuhlung raus, DJs rein – so lautet kurzgefasst die Vorgabe für den heutigen Abend.
Einer, der dann im Team der Lebenden auf der Bühne stehen wird, ist der Berliner Szeneheld Sebastian Krämer. Am Telefon kann man sich kaum vorstellen, dass dieses Stimmchen dem Double-National-Slam-Champ von 2001 und 2003 gehören soll. Krämer berichtet von seinem „Scheinbar“-Slam in Schöneberg, eine Wettkampfreihe in gediegenem Varietérahmen mit Pausenpianist. „Ich will Literatur zum Unterhaltungsevent machen, und da ist mir eine gemütliche Theateratmosphäre lieber als verrauchte Undergroundkneipen“, sagt Krämer. Langfristig habe man so auch bessere Chancen, von der „Feuilletonszene“ wahrgenommen zu werden.
In den USA übrigens, der Wiege der Bewegung, erzielt derzeit die „Def Poetry Jam“-Fernsehshow erstaunliche Einschaltquoten zur besten Sendezeit (auf HBO). Auch der Erfolg einer ähnlich gemachten Broadwayshow weist auf den kommerziellen Durchbruch der Poetry Slammer hin.
Gute Zeiten also für Rayl Patzak, der in seinem dicken Terminkalender blättern muss, damit er keine seiner regelmäßigen Münchner Veranstaltungen vergisst: Word Up im Atomic Cafe, Hörsalon 60 im Funky Kitchen und nicht zuletzt die Lausch Lounge im Werkraum der Kammerspiele, die am 28. Februar Premiere hat. Dort sollen internationale Slam-Poeten, junge Autoren und Schauspieler mit Rezitationsshows in Wohnzimmeratmosphäre auftreten.


 

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