KULTURBRIEF 10/2004

Hört, hört!

Hörbuchboom - Hochkultur oder Zeitgeist?

Die Stimme dringt durch das schwarze Gitternetz des Lautsprechers, wabert durch den Raum und erfüllt auch die hintersten Winkel. Sie malt Bilder in die Luft und in die Köpfe der Zuhörer und haucht den Figuren Atem ein. Mit Wispern und Zischen, Murmeln und Grummeln, Jauchzen und Jammern, Kichern und Glucksen. Genau wie es die Figur des Mo in Cornelia Funkes Kinderbuch "Tintenherz" vermag, sollte ein guter Vorleser die gedruckten Buchstaben zum Leben erwecken. Nur dann wird sich der Zuhörer ganz dem Hören hingeben und in der Welt des Buches versinken.

Das Hörbuch ist schon seit einigen Jahren kein Nischenprodukt für Senioren, Sehbehinderte oder passionierte Fans mehr, sondern eine salonfähige, ja angesagte Kunstform. In Buchläden nehmen Hörbücher ganze Wände ein, und aus den CD-Regalen in Wohn- und Kinderzimmern sind sie ebenfalls kaum noch wegzudenken. Sogar im Kino wird für das Hören geworben und neuerdings erscheinen einige Hörbücher zeitgleich mit dem eigentlichen Buch.
Am 17. März wird im Rahmen des Literaturfestivals LitCologne zum zweiten Mal der Deutsche Hörbuchpreis des WDR und WWF verliehen. Nominiert sind insgesamt 28 Hörbücher in sechs Kategorien. Neu ist die Idee einer Auszeichnung für das gehörte Wort nicht. Bereits 1950 initiierte der Bund der Kriegsblinden Deutschlands einen Hörspielpreis, der jährlich an ein von einem deutschsprachigen Sender konzipiertes und produziertes Original-Hörspiel vergeben wird. Ein weiterer Preis ist der Publikumspreis HörKules, dessen Gewinner wird bei der  Leipziger Buchmesse per Ted vom Publikum bestimmt. Überdies wählt die Frankfurter Akademie der Darstellenden Künste ein Hörspiel des Monats; am Jahresende wird aus diesen Monats-Hörspielen das Hörspiel des Jahres gekürt.

Willkommen im Hörbuch-Dschungel

Was ein Hörbuch ist, weiß mittlerweile jeder. Doch wie ist das genau? Liest der Autor sein eigenes Buch vor? Da gibt es doch auch Bücher, die von Schauspielern gelesen werden. Und was ist mit den Hörspielen? Neben Romanen für alle Altergruppen werden auch Sachthemen, Lyrik und Kurzgeschichten vertont. Mal vom Autor selbst und mal von einem anderen versierten Sprecher vorgetragen. Besonders populär sind Texte, denen eine bekannte Stimme aus Film oder Fernsehen zu frischem Leben verhilft. Oft musikalisch untermalt, bewegen sich diese Hörbücher ganz nah am Ur-Buch, es wird höchstens hier und da etwas gekürzt. Genres wie Krimi und Thriller, aber auch Klassiker der großen Literatur, werden gern als Hörspiel dramaturgisch aufgearbeitet. Auch hier sind prominente Sprecher nicht selten. Einen besonderen Charme haben auch neu aufgelegte Original-Tondokumente von Schauspielern oder Autoren, wie etwa die Rezitationen Kinskis oder die Gedichte und Prosa Hermann Hesses oder Erich Kästners, zu hören in ihren eigenen Stimmen.

Hauptzielgruppe und -abnehmer der Hörbuch Verlage sind die 20- bis 35jährigen. Möglicherweise, weil viele von ihnen durch oft jahrelangen Hörspielkonsum in der Kindheit im Lauschen geschult wurden. Damals dröhnten die Stimmen von Tarzan, Karl und Klößchen aus dem Kassettenrekorder - heute erschallt Pfeiffer "mit drei F" aus dem Discman. In den letzten Jahren erlebte nicht nur das Hörbuch einen Boom, auch das Kinderhörspiel wurde wieder entdeckt. Allen voran natürlich die "Drei ???", deren Sprecher heute vor ausverkauften Häusern ihre Kriminalfälle live lösen. Die Flohmarktpreise für die alten Tonträger steigen stetig und in Internetforen findet ein reger Austausch über den Rückfall in die Kindheit statt.

HörBar, das ist einer der wenigen sinnigen Namen in dem Wust aus Kost-Kauf-Ess- Trink- und wie sie alle heißen -Bars, die in den letzten Jahren die Szeneviertel der Großstädte überflutet haben. Hippes Jungvolk pilgert mittlerweile nicht nur in den deutschen Metropolen zu gemeinsamen Hör-Events. In loungiger Atmosphäre, wie dem Hörsalon 60 im Funky Kitchen Club in München, unter dem Sternenhimmel der Berliner Planetarien oder auf den Sofas der Hamburger Barbarabar und im Konsum, treffen sich Gleichgesinnte zum Lauschen. Kopfkino mit oder ohne Schlafbrille, bei Kaffee und Kuchen oder Wodka und Wein. Sicher nicht ganz unschuldig an dem Erfolg dieser Veranstaltungen ist die hohe Single-Dichte in der Zielgruppe. Denn wer hört schon gern sein Buch allein? Ein weiteres Phänomen, das in den letzten Jahren um sich gegriffen hat, ist das Hören aus dem Toilettenlautsprecher. Clubs oder Bars, die etwas auf sich halten, unterhalten ihre Gäste gern auch bis auf das stille Örtchen. Da hört man etwa "Leaving Las Vegas" im Hamburger Echochamber oder die Telefonstreiche von "Studio Braun" im Ododo am Münchner Gärtnerplatz. Das Hörbuch vom Zeitgeist einverleibt.

Doch ist der große Erfolg des Hörbuches durchweg positiv zu betrachten? Kritiker bemängeln die Passivität des Aktes und betrachten das Hörbuch als weiteres Übel im Zeitalter der medialen Dauerberieselung. Beim Lesen, da würden wir gefordert, müssten uns Zeit nehmen und richtig konzentrieren. Hören könne man dagegen nebenbei, beim Autofahren. oder beim Bügeln. Doch genau darum geht es vielen Hörbuch-Fans: "double your time". Laut einer Studie, die der hörVerlag Anfang 2003 bei der Ludwig-Maximilians-Universität München in Auftrag gegeben hat, lebt der typische Buchhörer in einer Großstadt und zählt zu den klassischen "Kulturkonsumenten". Er oder sie arbeitet viel, verdient gut, ist gebildet und immer ein wenig in Zeitnot. Weitere Angaben der LMU-Marktstudie lassen aufhorchen. Während sich 91% der Hörbuch-Nutzer regelmäßig einen Kinofilm ansehen, gehen ganze 50% nicht in Buchläden. Beweist das lediglich, dass die Hörer in ihrer gering bemessenen Freizeit nach möglich einfach konsumierbarer Unterhaltung streben oder sind diese Zahlen ein Anzeichen dafür, dass sich die Aktivitäten der Generation der 20- bis 35jährigen einem Kulturverfall nähern? Im Gegenteil, werden Verfechter des Hörbuches sagen, Lese- aber eben nicht Literaturfaule würden durch das Medium Hörbuch angesprochen und müssten trotz eines prallen Terminkalenders nicht auf Literatur verzichten. Denkbar ist auch, dass das Hörbuch als Kopfkino doch eher dem Film verwandt ist, als dem geschriebenen Wort. Die Voraussetzung für ein gutes Hörbuch ist und bleibt jedenfalls ein gutes Buch und daran wird sich auch so schnell nichts ändern.

Ob Hochkultur oder Zeitgeist - Hauptsache, Hören. Weil man manchmal einfach lese- aber eben nicht literaturfaul ist. Und weil selbst ein schon oft gelesenes Buch ganz neu erlebt werden kann, wenn es von einer fremden Stimme rezitiert wird. Weil es Spaß macht, zuzuhören und sich in ein Buch hineinzuträumen. Und dass das Hörbuch eine eigene Kunstform weiß jeder, der einmal mit geschlossenen Augen und einem Kribbeln hinter den Ohren einem wirklich guten Vorleser gelauscht hat. Hauptsache, Literatur er-Hören. Im günstigsten Fall decken sich Zeitgeist und Hochkultur.

Hörenswert: Kurzrezensionen zu einer Auswahl der für den Deutschen Hörbuchpreis 2004 nominierten Hörbücher:

"Tintenherz" - Rainer Strecker liest Cornelia Funkes neuen Kinderroman
"Populärmusik aus Vitulla" -  Mikael Niemis Roman über den Einzug des Rock ´n´Roll in das schwedische Dorf, gelesen von Gerd Köster
"Die Nibelungen" - Ein Hörspiel von Moritz Rinke
"Fuck Machine - Gedichte vom südlichen Ende der Couch" - Martin Semmelrogge liest Prosagedichte von Charles Bukowski
"Nach dem Beben" - Joachim Król liest Erzählungen von Haruki Murakami

Weitere Links rund um das Hörbuch:

Hörspielhelden: Veranstaltungshinweise zu Hör-Events und Informationen aus der Hörspielszene
Hörspiele unterm Sternenhimmel: Programm der Frühjahrsstaffel des Berliner Hörspielkinos
Akustische Medien: Newsportal, Archiv und Hörspielbibliographie
Konsum: Hörspielprogramm der Hamburger "konsum gaststätte"
Das Erbe der Kassettenkinder: Eine Chronik des 80er Jahe Kinderhörspiels
Der Deutsche Hörbuchpreis: Infos, Jury und Nominierungen

 Originalartikel "Die Zeit", Kulturbrief 10/2004

 

 

Zurück zu den News

[Home][Hörspiel-Events][Hörspielhelden][Hörspielrezensionen][Hörspielsammlung][Hörspiel-Links][Interaktiv]