Hörspiel-Highlight des Monats März 2003

 

 

 

Georg Büchner (1813 - 1837): Lenz

"Er ging gleichgültig weiter, es lag ihn nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte." - Arnold Zweig bezeichnete 1923 diese Sätze aus Georg Büchners "Lenz" als den Beginn der modernen europäischen Prosa.
In der Tat gehört diese Erzählung über den "armen Poeten" J.M.R. Lenz zu den wichtigsten Werken der deutschen Literaturgeschichte.
Als Hörbuch ist dieses Meisterwerk ein nicht ganz einfacher, aber unbedingt lohnender Genuß - vielleicht sollte man die Lenzerzählung jedoch erst selbst lesen, denn Büchners Sprachgewalt verlangt beim Ersthören eine hohe Konzentration, selbst wenn der Text wie von Roland Astor in dem hier vorgestellten Hörbuch - 1998 bei Naxos Hörbücher erschienen - hervorragend vorgetragen wird.
Büchners Erzählung - als Novelle kann man dieses erst posthum erschienene Fragment über den Sturm-und-Drang-Schriftsteller Lenz eigentlich nicht bezeichnen - stellt eine beeindruckende Studie über die zunehmende psychische Entrückung seiner Hauptfigur Lenz dar. Manche sehen in dieser Erzählung des jung verstorbenen Mediziners, Sozialrevolutionärs und Schriftstellers Büchner sogar die erste präzise Beschreibung einer Schizophrenie - diese psychische Erkrankung war der damaligen Medizin noch unbekannt.
Als Vorlage für seinem "Lenz" diente Büchner vor allem ein präziser Rechenschaftsbericht, den Pfarrer Oberlin über den 20tägigen Aufenthalt des historischen Lenz` im Steintal (20.01 bis 08.02.1778) verfaßt hat. Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 - 1792), u.a. der Verfasser der Dramen "Der Hofmeister" (1774) und "Die Soldaten" (1776) litt unter beginnendem Wahnsinn und wurde deshalb von Freunden zu diesem bekannten  pietistischen Pfarrer geschickt, in der Hoffnung, daß ein Aufenthalt bei dem Philanthropen Oberlin zu einer Besserung seines prekären psychischen Zustandes führen könnte. Leider verschlimmerte sich sein Zustand im Steintal zunehmend, weshalb er schon nach 20 Tagen von Freunden über Umwege zurück zu seinem Vater nach Livland gebracht wurde - der unglückliche Schriftsteller, den sein ehemaliger Freund und Weggefährte Goethe in "Dichtung und Wahrheit" als "vorübergehendes Meteor" abgeurteilt hat, das keine Spuren in der Literatur hinterlassen habe, fand nie wieder zurück in ein normales Leben. Seine schizophrenen Schübe und seine prekäre finanzielle Situation zerrütteten ihn. Nachdem er mehrere Jahre mehr schlecht als recht versucht hatte, in Moskau als Hauslehrer und Schriftsteller Fuß zu fassen, wurde er am 24. Mai 1792 tot in einer Moskauer Straße gefunden - nur 42 Jahre alt.
Der Autor des Hessischen Landbotens - einer Flugschrift, deren Verfasserschaft Büchner in seiner Heimat zum steckbrieflich gesuchten Revolutionär machte und zur Flucht ins französische Straßburg nötigte - beginnt seine Erzählung in medias res. Der Leser (oder der Hörer) wird unmittelbar dem gehetzten Wahnsinn der Hauptfigur bei ihrer Wanderung durch die bedrohliche Bergnatur konfrontiert. Büchner schafft hierbei eine Unmittelbarkeit der Naturbeschreibung, die sich davor höchstens in Goethes Werther (vgl. Brief vom 10. Mai) finden läßt.
Bis zum Höhepunkt der Erzählung, dem sogenannten "Kunstgespräch" wird Lenz in seinem aussichtslosem Kampf gegen die Übermacht des Wahnsinns gezeigt. Der Gejagte findet nur scheinbar Ruhe und Geborenheit bei den Oberlins. In den Nächten holt ihn immer wieder "eine unnennbare Angst" ein, gegen die Lenz immer machtloser wird. Auch im Glauben kann der studierte Theologe keinen Halt mehr finden, wie sich in der Predigtszene zeigt, die in einer wahnsinnigen Wollusterfahrung gipfelt.
Als dann Kaufmann, ein alter Freund Lenzens, ins Steintal kommt, um den Verwirrten zur Heimkehr zum Vater zu überreden, kommt es zum Höhe- und Wendepunkt der Erzählung. Im Kunstgespräch zeigt Büchner seine Lenzfigur noch einmal auf der Höhe ihrer geistigen Kraft. Vehement und scharfsinnig verteidigt Lenz hier die literaturästhetische Position des Sturm und Drang gegen den Idealismus.
Diesem literaturästhetischen Diskurs, der von einer produktiven Rezeption der literarischen Position des historischen Lenz geprägt ist, kommt für Büchners Schaffen eine hohe Bedeutung zu. Blickt man auf das Werk Büchners, vor allem auf sein letztes, Fragment gebliebenes Drama "Woyzeck" könnte man fast davon sprechen, daß er im Kunstgespräch der "Lenz"-Erzählung sein eigenes literarisches Schaffen poetologisch begründet: "Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist`s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, das Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. [...] Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen."
Die Lenzfigur steht mit dieser kunstästhetischen Position auf verlorenem Posten - wie auch der historische Lenz, der die Weiterentwicklung seines Sturm-und-Drang - Weggefährten Goethe zur Weimarer Klassik nicht vollziehen konnte und wollte. Konsequenterweise zeigt Büchner nun den unaufhaltsamen Verfall seiner Hauptfigur. Seine Anfälle werden so schlimm, daß Oberlin ihn nicht mehr bei sich betreuen kann. Lenz wird von seinem Bruder Karl in die Heimat zurückgeholt - hier endet jedoch Büchners Erzählung mit den Worten: "[...] sein Dasein war ihm eine notwendige Last. - - So lebte er hin."
In der gesamten Erzählung gelingt Büchner eine faszinierende "Verschränkung von psychogene befindlicher Figurensicht und rational befindender Autorensicht" (Henri Poschmann), die den Rezipienten herausfordert, seinen Standpunkt und seine Betrachtungsweise, damit letztlich seine Haltung zur Welt an sich, zu überprüfen.

Michael

Georg Büchner Lenz
Sprecher: Roland Astor
Spieldauer: 72' 15''

Recorded in
Downtown Studio München 20.02.1998
Producer: Sören Meyer-Eller
Engineer: Jochen Scheffter

1998 Naxos Hörbücher - Klassiker der Literatur NHB 10043
ISBN 3-933514-06-1
l

 

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