Georg Büchner (1813 - 1837): Lenz
"Er ging gleichgültig weiter, es lag ihn nichts am Weg,
bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal
unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte." - Arnold Zweig bezeichnete
1923 diese Sätze aus Georg Büchners "Lenz" als den Beginn der modernen
europäischen Prosa. In der Tat gehört diese Erzählung über den "armen Poeten"
J.M.R. Lenz zu den wichtigsten Werken der deutschen Literaturgeschichte. Als Hörbuch ist dieses Meisterwerk ein nicht ganz
einfacher, aber unbedingt lohnender Genuß - vielleicht sollte man die
Lenzerzählung jedoch erst selbst lesen, denn Büchners Sprachgewalt verlangt
beim Ersthören eine hohe Konzentration, selbst wenn der Text wie von Roland
Astor in dem hier vorgestellten Hörbuch - 1998
bei Naxos Hörbücher erschienen -
hervorragend vorgetragen wird. Büchners Erzählung - als Novelle kann man dieses erst
posthum erschienene Fragment über den Sturm-und-Drang-Schriftsteller Lenz
eigentlich nicht bezeichnen - stellt eine beeindruckende Studie über die
zunehmende psychische Entrückung seiner Hauptfigur Lenz dar. Manche sehen in
dieser Erzählung des jung verstorbenen Mediziners, Sozialrevolutionärs und
Schriftstellers Büchner sogar die erste präzise Beschreibung einer
Schizophrenie - diese psychische Erkrankung war der damaligen Medizin noch
unbekannt. Als Vorlage für seinem "Lenz" diente Büchner vor allem
ein präziser Rechenschaftsbericht, den Pfarrer Oberlin über den 20tägigen
Aufenthalt des historischen Lenz` im Steintal (20.01 bis 08.02.1778) verfaßt
hat. Jakob Michael Reinhold Lenz (1751 - 1792), u.a. der Verfasser der Dramen
"Der Hofmeister" (1774) und "Die Soldaten" (1776) litt unter beginnendem
Wahnsinn und wurde deshalb von Freunden zu diesem bekannten pietistischen Pfarrer geschickt, in der Hoffnung,
daß ein Aufenthalt bei dem Philanthropen Oberlin zu einer Besserung seines
prekären psychischen Zustandes führen könnte. Leider verschlimmerte sich sein
Zustand im Steintal zunehmend, weshalb er schon nach 20 Tagen von Freunden über
Umwege zurück zu seinem Vater nach Livland gebracht wurde - der unglückliche
Schriftsteller, den sein ehemaliger Freund und Weggefährte Goethe in "Dichtung
und Wahrheit" als "vorübergehendes Meteor" abgeurteilt hat, das keine Spuren in
der Literatur hinterlassen habe, fand nie wieder zurück in ein normales Leben.
Seine schizophrenen Schübe und seine prekäre finanzielle Situation zerrütteten
ihn. Nachdem er mehrere Jahre mehr schlecht als recht versucht hatte, in Moskau
als Hauslehrer und Schriftsteller Fuß zu fassen, wurde er am 24. Mai 1792 tot
in einer Moskauer Straße gefunden - nur 42 Jahre alt. Der Autor des Hessischen Landbotens - einer Flugschrift,
deren Verfasserschaft Büchner in seiner Heimat zum steckbrieflich gesuchten
Revolutionär machte und zur Flucht ins französische Straßburg nötigte - beginnt
seine Erzählung in medias res. Der Leser (oder der Hörer) wird
unmittelbar dem gehetzten Wahnsinn der Hauptfigur bei ihrer Wanderung durch die
bedrohliche Bergnatur konfrontiert. Büchner schafft hierbei eine Unmittelbarkeit
der Naturbeschreibung, die sich davor höchstens in Goethes Werther (vgl. Brief
vom 10. Mai) finden läßt. Bis zum Höhepunkt der Erzählung, dem sogenannten
"Kunstgespräch" wird Lenz in seinem aussichtslosem Kampf gegen die Übermacht
des Wahnsinns gezeigt. Der Gejagte findet nur scheinbar Ruhe und Geborenheit
bei den Oberlins. In den Nächten holt ihn immer wieder "eine unnennbare Angst"
ein, gegen die Lenz immer machtloser wird. Auch im Glauben kann der studierte
Theologe keinen Halt mehr finden, wie sich in der Predigtszene zeigt, die in
einer wahnsinnigen Wollusterfahrung gipfelt. Als dann Kaufmann, ein alter Freund Lenzens, ins Steintal
kommt, um den Verwirrten zur Heimkehr zum Vater zu überreden, kommt es zum
Höhe- und Wendepunkt der Erzählung. Im Kunstgespräch zeigt Büchner seine
Lenzfigur noch einmal auf der Höhe ihrer geistigen Kraft. Vehement und
scharfsinnig verteidigt Lenz hier die literaturästhetische Position des Sturm
und Drang gegen den Idealismus. Diesem literaturästhetischen Diskurs, der von einer
produktiven Rezeption der literarischen Position des historischen Lenz geprägt
ist, kommt für Büchners Schaffen eine hohe Bedeutung zu. Blickt man auf das
Werk Büchners, vor allem auf sein letztes, Fragment gebliebenes Drama "Woyzeck"
könnte man fast davon sprechen, daß er im Kunstgespräch der "Lenz"-Erzählung
sein eigenes literarisches Schaffen poetologisch begründet: "Der liebe Gott hat
die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres
klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich
verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist`s gut; wir haben
dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, das Was
geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige
Kriterium in Kunstsachen. [...] Man muß die Menschheit lieben, um in das
eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner
zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen." Die Lenzfigur steht mit dieser kunstästhetischen Position
auf verlorenem Posten - wie auch der historische Lenz, der die
Weiterentwicklung seines Sturm-und-Drang - Weggefährten Goethe zur Weimarer
Klassik nicht vollziehen konnte und wollte. Konsequenterweise zeigt Büchner nun
den unaufhaltsamen Verfall seiner Hauptfigur. Seine Anfälle werden so schlimm,
daß Oberlin ihn nicht mehr bei sich betreuen kann. Lenz wird von seinem Bruder
Karl in die Heimat zurückgeholt - hier endet jedoch Büchners Erzählung mit den
Worten: "[...] sein Dasein war ihm eine notwendige Last. - - So lebte er hin." In der gesamten Erzählung gelingt Büchner eine
faszinierende "Verschränkung von psychogene befindlicher Figurensicht und
rational befindender Autorensicht" (Henri Poschmann), die den Rezipienten
herausfordert, seinen Standpunkt und seine Betrachtungsweise, damit letztlich
seine Haltung zur Welt an sich, zu überprüfen.
Michael
Georg
Büchner Lenz Sprecher: Roland Astor Spieldauer:
72' 15''
Recorded
in Downtown Studio München 20.02.1998 Producer:
Sören Meyer-Eller Engineer: Jochen Scheffter
1998
Naxos Hörbücher - Klassiker der Literatur
NHB 10043 ISBN 3-933514-06-1l
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