"Das Haus mit den hundert Türen" hält
eine Vielzahl mysteriöser Audienzen für seine Besucher
bereit. Während man hinter einer Tür auf das Unheimliche
des gemeinen Alltags trifft, öffnen sich hinter einer anderen
geheimnisvolle Räume an der Grenze zum Jenseits. "Erzählungen
zwischen Traum und Wirklichkeit" betitelt der Bückeburger Verlag
ContraPunkt seine neue Hörbuchreihe, dessen erste Veröffentlichung
auf zwei Erzählungen der Neckartaler Schriftstellerin Fanny
Morweiser basiert. Obwohl man sich bei der Umsetzung von "Das
Haus mit den hundert Türen" und "Schnee" grundsätzlich
für ein Hörbuch-Format entschieden hat, haben die beiden
Geschichten stellenweise fast Hörspiel-Charakter, was neben
der die jeweilige Stimmung eindrucksvoll unterstützenden Musik
(Oliver Hartmann) vor allem an der Verwendung von zahlreichen Hintergrundgeräuschen
liegt. Gleich zu Beginn des ersten Tracks weht dem Zuhörer
im wahrsten Sinne des Wortes eine unheimliche, stürmische Nacht
um die Ohren, der ein nahezu fühlbarer, warmer Sommertag folgt.
Der unmittelbare Wechsel der Wetterlage ist dabei jedoch nur eines
von vielen Gegensatzpaaren, mit denen Morweiser die literarische
Grundlage für diese Audio-CD gestaltet hat.
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So ist der schöne Sommertag der scheinbar
gelungene Rahmen für ein elegantes Gartenfest, das in Wahrheit
zur Schablone für die dunkle Kluft zwischen der Welt der Erwachsenen
und ihrer Kinder wird. Weil der kleine Tobias ein Mädchen von
der Schaukel geworfen haben soll, wird er von seinen Eltern, die
keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen den eigenen Sohn machen, brutal
auf sein Zimmer verbannt. Zusammen mit seiner älteren Schwester
Sarah, die ihren Bruder als einzige zu kennen und zu lieben scheint,
begibt er sich heimlich auf die Suche nach einem wundersamen Haus,
das er mit einem Fernrohr aus seinem Zimmerfenster entdeckt hat. Der
Aufbruch der beiden Geschwister markiert einen Wechsel von der bürgerlichen
Enge der Erwachsenen hinein ins Phantasiereich der Kinder, wobei
als äußerliche Grenze ein geheimnisvoller Garten dient,
in den sich Sarah und Tobias begeben. Große Farbsymbolik,
der Dualismus von Sonne und Schatten, Realität und Irrealität
und die sanfte, dann wieder bedrohliche Musikuntermalung tragen
den Zuhörer fast unmerklich hinein in eine mystische Parallelwelt,
an die man im allgemeinen wohl nur als Kind geglaubt hat. Einzig
Karin Schilling, die in "Das Haus mit den hundert Türen" ihr
Debüt als Rezitatorin gibt, bremst das unbeirrte Eintauchen
in die unerhörten Begebenheiten voller Schrecken und Poesie
von Zeit zu Zeit: In ihrem Versuch, sich in die einzelnen Rollen
hineinzuversetzen, wirkt sie manchmal fast zu laut, zu überbetont,
weshalb man sich bei der Vertonung gut eine getrennte Besetzung
von Erzählerin und Figuren hätte vorstellen können.
Überzeugender wirkt da schon Frank Suchland, der in "Schnee"
u.a. der 8-jährigen Halbwaise Nellie, die allein mit ihrem
Vater auf einer entlegenen Halbinsel im Altrhein lebt, seine Stimme
leiht. Nellie flüchtet sich, ähnlich wie Sarah und Tobias,
in eine andere, in eine Märchenwelt, zu der die Außenstehenden
keinen Zugang haben. Immer wieder begegnet sie hier ihrer verstorbenen
Schwester, die mit kindlicher Eifersucht über das Leben der
Hinterbliebenen wacht. Im Gegensatz zu "Das Haus mit den hundert
Türen" geht es in "Schnee" demnach auch um die unbeantworteten
Fragen der Kinder und darum, welche Bewältigungsstrategien
und Kompensationsmethoden diese aufgrund der verweigerten Antworten
der Erwachsenen entwickeln. Keine leichte Kost also, mit der ContraPunkt
Ende 2004 hier an den Start gegangen ist, aber eine jederzeit lohnende.
Vorausgesetzt, man läßt sich ein auf die manchmal doch
nur schwer zu durchschauenden Ebenen der beiden Erzählungen.
Dann aber kann genau diese komplexe Struktur, die sich nicht beim
ersten Mal zu erkennen gibt, genauso viel Raum für die eigene
Phantasie lassen wie das wohl bewußt nüchtern gehaltene
Hörbuch-Cover: Es zeigt ein rotes Haus, das ebensogut von einem
Kind gemalt sein könnte und dem Betrachter bei genauerem Hinsehen
die Möglichkeit gibt, hundert Türen mit mindestens genauso
vielen Audienzen zu entdecken.
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