Erzählungen zwischen Traum & Wirklichkeit Teil 1

Fanny Morweiser
DAS HAUS MIT DEN HUNDERT TÜREN

Gelesen von Karin Schilling & Frank Suchland

"Das Haus mit den hundert Türen" hält eine Vielzahl mysteriöser Audienzen für seine Besucher bereit. Während man hinter einer Tür auf das Unheimliche des gemeinen Alltags trifft, öffnen sich hinter einer anderen geheimnisvolle Räume an der Grenze zum Jenseits. "Erzählungen zwischen Traum und Wirklichkeit" betitelt der Bückeburger Verlag ContraPunkt seine neue Hörbuchreihe, dessen erste Veröffentlichung auf zwei Erzählungen der Neckartaler Schriftstellerin Fanny Morweiser basiert.
Obwohl man sich bei der Umsetzung von "Das Haus mit den hundert Türen" und "Schnee" grundsätzlich für ein Hörbuch-Format entschieden hat, haben die beiden Geschichten stellenweise fast Hörspiel-Charakter, was neben der die jeweilige Stimmung eindrucksvoll unterstützenden Musik (Oliver Hartmann) vor allem an der Verwendung von zahlreichen Hintergrundgeräuschen liegt. Gleich zu Beginn des ersten Tracks weht dem Zuhörer im wahrsten Sinne des Wortes eine unheimliche, stürmische Nacht um die Ohren, der ein nahezu fühlbarer, warmer Sommertag folgt. Der unmittelbare Wechsel der Wetterlage ist dabei jedoch nur eines von vielen Gegensatzpaaren, mit denen Morweiser die literarische Grundlage für diese Audio-CD gestaltet hat.

So ist der schöne Sommertag der scheinbar gelungene Rahmen für ein elegantes Gartenfest, das in Wahrheit zur Schablone für die dunkle Kluft zwischen der Welt der Erwachsenen und ihrer Kinder wird. Weil der kleine Tobias ein Mädchen von der Schaukel geworfen haben soll, wird er von seinen Eltern, die keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen den eigenen Sohn machen, brutal auf sein Zimmer verbannt. Zusammen mit seiner älteren Schwester Sarah, die ihren Bruder als einzige zu kennen und zu lieben scheint, begibt er sich heimlich auf die Suche nach einem wundersamen Haus, das er mit einem Fernrohr aus seinem Zimmerfenster entdeckt hat.
Der Aufbruch der beiden Geschwister markiert einen Wechsel von der bürgerlichen Enge der Erwachsenen hinein ins Phantasiereich der Kinder, wobei als äußerliche Grenze ein geheimnisvoller Garten dient, in den sich Sarah und Tobias begeben. Große Farbsymbolik, der Dualismus von Sonne und Schatten, Realität und Irrealität und die sanfte, dann wieder bedrohliche Musikuntermalung tragen den Zuhörer fast unmerklich hinein in eine mystische Parallelwelt, an die man im allgemeinen wohl nur als Kind geglaubt hat.
Einzig Karin Schilling, die in "Das Haus mit den hundert Türen" ihr Debüt als Rezitatorin gibt, bremst das unbeirrte Eintauchen in die unerhörten Begebenheiten voller Schrecken und Poesie von Zeit zu Zeit: In ihrem Versuch, sich in die einzelnen Rollen hineinzuversetzen, wirkt sie manchmal fast zu laut, zu überbetont, weshalb man sich bei der Vertonung gut eine getrennte Besetzung von Erzählerin und Figuren hätte vorstellen können. Überzeugender wirkt da schon Frank Suchland, der in "Schnee" u.a. der 8-jährigen Halbwaise Nellie, die allein mit ihrem Vater auf einer entlegenen Halbinsel im Altrhein lebt, seine Stimme leiht. Nellie flüchtet sich, ähnlich wie Sarah und Tobias, in eine andere, in eine Märchenwelt, zu der die Außenstehenden keinen Zugang haben. Immer wieder begegnet sie hier ihrer verstorbenen Schwester, die mit kindlicher Eifersucht über das Leben der Hinterbliebenen wacht.
Im Gegensatz zu "Das Haus mit den hundert Türen" geht es in "Schnee" demnach auch um die unbeantworteten Fragen der Kinder und darum, welche Bewältigungsstrategien und Kompensationsmethoden diese aufgrund der verweigerten Antworten der Erwachsenen entwickeln. Keine leichte Kost also, mit der ContraPunkt Ende 2004 hier an den Start gegangen ist, aber eine jederzeit lohnende. Vorausgesetzt, man läßt sich ein auf die manchmal doch nur schwer zu durchschauenden Ebenen der beiden Erzählungen. Dann aber kann genau diese komplexe Struktur, die sich nicht beim ersten Mal zu erkennen gibt, genauso viel Raum für die eigene Phantasie lassen wie das wohl bewußt nüchtern gehaltene Hörbuch-Cover: Es zeigt ein rotes Haus, das ebensogut von einem Kind gemalt sein könnte und dem Betrachter bei genauerem Hinsehen die Möglichkeit gibt, hundert Türen mit mindestens genauso vielen Audienzen zu entdecken.

Petra

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