Selma Lagerlöf (1859 - 1940): Wunderbare Reise des kleinen
Nils Holgersson mit den Wildgänsen
Die Abenteuer von Nils Holgersson kennt jeder - entweder als
Zeichentrickserie, die Anfang der 1980er Jahre im Fernsehen lief (und
leider schon lange nicht mehr wiederholt wurde), als Kinderhörspiel und
vielleicht auch als Buch, das man als Kind von den Eltern vorgelesen bekam. Den
wenigsten jedoch dürfte bekannt sein, daß es sich bei der Geschichte des
kleinen Däumlings ursprünglich um ein Lesebuch für Volksschulen handelte,
verfaßt von Selma Lagerlöf, erstmals erschienen in Stockholm 1906/07 unter dem
Titel "Nils Holgerssons underbara Resa genom Sverige". Seitdem hat die
liebevoll erzählte Geschichte von Nils Holgersson, Krümel, der Hausgans Martin
und all den anderen nicht nur schwedische Schulkinder begeistert. Auch unter den
Kinderhörspielklassikern haben die Abenteuer von Nils Holgersson einen festen
Platz; bekannt ist vor allem die neunteilige Produktion von Poly, die sich
stark an die TV-Zeichentrickserie anlehnt. Aber auch bei Karussell, Schwanni
und dem Hörverlag sind die Geschichten des kleinen Nils Holgersson erschienen. Die Hörspielfassung von Poly basiert auf
Original-Tonaufnahmen
aus der TV-Serie, weshalb ihr leider die sprachliche Schönheit fehlt, mit der
Selma Lagerlöf Schülern auf unterhaltsam-spannende, gleichzeitig aber auch
lehrreiche Art ihre schwedische Heimat nahebringt. Daher kann das von Matthias
Ponnier
meisterhaft gelesene Hörbuch aus dem Hörverlag als Alternative zur
Poly-Produktion nur wärmstens empfohlen werden.
Für literaturgeschichtlich interessierte Hörspielliebhaber
abschließend noch Auszüge aus Kindlers Literaturlexikon über diesen
Kinderbuchklassiker: "Schon wenige Jahre nach seinem Erscheinen war dieses
einzigartige Schulbuch in etwa dreißig Sprachen übersetzt, und noch heute
erfreut es sich in aller Welt größter Beliebtheit. Die Dichterin hatte den ihr
im Jahre 1901 erteilten Auftrag des
schwedischen Lehrerverbands, ein zeitgemäßes Lesebuch für den
Heimatkundeunterricht zu schreiben, auf ihre Art erfüllt. Weil sie wußte, daß
es >>nicht
die allerleichteste Sache ist, neunjährigen Kindern die Natur unseres Landes
zugänglich zu machen<<, wie sie am 29.6.1906 an den Verlag A. Bonniers
schrieb, ließ sie sich von Kiplings Jungle Books (1894/95) zu einer Tierfabel
inspirieren: Sie ersann ein Märchen, in dem die nach Norden ziehenden Wildgänse
die Hauptrolle spielen, und machte einen zum Däumling verwandelten kleinen
Jungen, Nils Holgersson, zu deren Reisegefährten.
Während Nils Holgerssons Reise mit den Wildgänsen vom südlichen Schonen bis zum
nördlichsten Lappland wird im Gespräch zwischen den Wildgänsen und dem Däumling
die ganze schwedische Landschaft lebendig, einmal aus der Vogelperspektive, ein
andermal aus der Sicht des kleinen Nils, für den in dieser verwandelten Gestalt
auch die Menschen und Tiere, denen sie auf ihrer Reise begegnen, seltsam und
interessant geworden sind. Der große Zirkel, in dem die Reise verläuft, faßt
viele zugleich spannend-amüsante und lehrreiche Einzelerzählungen zusammen, die
in märchenhaftem Rahmen die Geschichte und die charakteristischen Züge der
einzelnen Landschaften und Städte und auch das gute und schlechte Handeln der
Menschen und Tiere und die allmähliche Läuterung des kleinen garstigen Nils zum
guten Jungen anschaulich machen. - Der Lehrstoff, der Selma Lagerlöf von Volksschullehrern
im ganzen Land in Form von Aufsätzen und Aufzeichnungen über schwedische
Gebäude, Trachten, Volksglauben, über Arbeit, Nahrung und Kunst zugesandt
wurde, und die pädagogische Absicht dieser echten Moralistin sind völlig
integriert in die aufregenden Erlebnisse der großen Reise, die wiederum in
einer damals erstaunlich modernen, lebhaft realistischen Sprache geschildert
sind. Wie die Dichterin sich 1905 in einem Brief gewünscht hatte, ist ihr Nils
Holgersson eine >>originelle
und lustige Arbeit, zugleich ein Kunstwerk und ein Schulbuch<< geworden,
dessen Vollkommenheit wohl gerade daher rührt, daß sie es für Kinder erzählt
hat."
(Walter Jens (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon.
Studienausgabe, Band 9, München 1988, S. 953)
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