Michael Ende versteht
sich als ein entschiedener Vertreter phantastisch-surrealistischer
Literatur, dessen Hauptanliegen es ist, einer durch die Aufklärung
verschuldeten Fehlentwicklung unseres Wirklichkeitsverständnisses
Einhalt zu gebieten und zur Wiedergewinnung einer metaphysischen
Weltsicht beizutragen. In seinem Gespräch mit Erhard Eppler
und Hanna Tächl (Phantasie/Kultur/Politik) werden die historischen
Ursachen unseres ganz und gar unzureichenden Wirklichkeitsbegriffs
aufgezeigt. Demnach führt der Weg von den Sokratikern, die
mit logischen Argumenten Wahrheit, d.h. Objektives finden
wollten, zu Vertretern eines quantifizierten Denkens, wie Giordano
Bruno, Galileo Galilei und Newton, wodurch die Einheit der Welt
in eine objektive Wirklichkeit und eine subjektive Innerlichkeit
zerrissen wurde. So erklärt sich, daß wir heute objektiv
als Synonym für wahr und subjektiv als Synonym
für illusorisch gelten lassen. Descartes Unterscheidung
zwischen "res cogitans" und "res extensae" führte
dann auch noch zur Entleerung des Naturbegriffs. Konsequenterweise
entstanden daraus Materialismus und Positivismus [...]. Eine entsprechende
Ahnenreihe derer, die zur Desillusionierung der Menschheit beigetragen
haben, sieht er in den intellektuellen Dunkelmännern
Kopernikus, Darwin, Marx, Freud und Einstein [...]. Um aus dem so
entstandenen Dilemma heruaszufinden, bedürfe es eines Bewußtseinssprungs
von der Eindimensionalität zur Vieldimensionalität des
Denkens [...]. Hilfreich und notwenig wären zudem positive
Utopien, wie sie in den Idealen der französischen Revolution,
"Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", vorgegeben
sind. Angewandt auf unsere Gesellschaft wäre es Aufgabe des
Staates, Gleichheit vor dem Gesetz zu schaffen, Aufgabe des Geisteslebens,
der individuellen Begabung uneingeschränkte Freiheit zu ermöglichen,
Aufgabe des Wirtschaftslebens, Brüderlichkeit zu üben
[...]. Ende weiß sich als Dichter im Bereich des Geisteslebens
gefordert. [...] Anders als das Historisch-Museale, das Wissenschaftlich-Analytische
und der durch Diffamierung der Kunst als Lüge destruktive Nihilismus
verfügt wahre Kunst allein über die das Humane erhaltenden
schöpferischen, heilenden Kräfte. Bestimmende Postulate
sind folgerichtig neben der Freiheit im Geistesleben die Gleichsetzung
von Kunst und Schönheit sowie Kunst als Medium der Wirklichkeitsbewältigung.
In diesem Sinn definiert er Poesie als die schöpferische
Fähigkeit des Menschen, sich in der Welt und die Welt in sich
zu erfahren und wiederzuerkennen, als anthropomorphistisch
und als das Ewig-Kindliche im Menschen. [...] Hier erfolgt
die Einschränkung durch Michael Ende selbst, der davon überzeugt
ist, daß es in der Welt noch andere Kräfte und Mächte
gibt, die hilfreich eingreifen [...]. Das knapp skizzierte
Kunstverständnis zeigt Endes starke Verbundenheit mit der deutschen
Romantik. Besonders Tieck und E.T.A Hoffmann, Eichendorff, Novalis
und die Brüder Grimm werden als Vorbilder genannt. Weil
ich versuche, an die deutsche Romantik auch stilistisch anzuknüpfen,
- und weil sie die originäre deutsche Kulturleistung ist
[...]. Wichtige Autoren sind für ihn sodann u.a. Shakespeare,
die Weimarer Klassiker, Dostojewski, Kafka, Rabelais, Borges, Marquez,
Tolkien und Lewis sowie Beagle und Blixen. Philosophische EInsichten
kommen von Lao-Tse, Plato, Nietzsche, Kierkegaard, R. Steiner [...].
Michael Ende jat sich zudem dreißig Jahre intensiv mit
allen okkulten Systemen der Welt beschäftigt (u.a. Zen-Buddhismus,
Rosenkreutzer, Alchimisten, Kabbala) und lernte daraus die Eigengesetzlichkeit
von Bildern, die Lebensprozesse besser erfassen als Begriffe. Dieses
Denken in Beziehungen habe ich dreißig Jahre regelrecht
geübt [...]. Dem entspricht seine Vorliebe für Chagall,
mit dessen Stil, Urbilder, Innenbilder, Traumbilder suchend,
die auf der ganzen Welt die gleichen sind [...]. Überhaupt
habe ihn die phantastisch-surrealistische Malerei, vom Vater vermittelt,
geprägt. In einem Gespräch mit Christian Lindner bekennt
Michael Ende in Ahnlehnung an J.L. Borges über Shakespeare:
In mir ist niemand. Mit allen Schriftstellern teilte er das
Schicksal viele Identitäten zu haben, aber eben keine
in Wirklichkeit [...], oder nur eine scheinbare, eine, die er sich
aufsetzt wie eine Maske, um mit den Menschen seiner Umwelt in irgendeiner
Weise zu verkehren. Für ihn gibt es zwei verschiedene
Arten von Autoren: Es gibt die Autoren - oder Maler oder Musiker
-, die sich ausdrücken wollen - nehmen Sie Beethoven; und es
gibt den anderen Künstler, der aus dem Spiel heraus arbeitet,
der gar nicht den Drang hat, verstanden zu werden als Person - nehmen
sie Mozart [...] Ich stehe auf Mozart. Phantasie ist für
ihn die Summe vieler Erfahrungen, die aber als Gesamtheit,
als Bild wieder auftauchen [...] Alles, was ich vergessen habe,
taucht in der Tat in meinen Büchern wieder auf, aber eben in
veränderter Form [...].
Geboren am 12.11.1929 in
Garmisch-Partenkirchen, Sohn des Hamburger Malers Edgar Ende (1901-1965),
einer der ersten bedeutenden surrealistischen Maler in Deutschland,
und der Saarländerin Luise Ende, geb. Bartholomä. Kindheitsjahre
ab 1931 in München-Pasing, ab 1935 in München-Schwabing,
im Umkreis von Malern, Bildhauern, Literaten und deren Kindern.
Besuch der Volksschule, Übertritt ins Maximiliansgymnasium;
erste Begegnung und Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im "Jungvolk",
Einstufung der Werke des Vaters als "entartete Kunst"
mit Berufsverbot und dessen Eiberufung zum Kriegsdienst. Erfahrung
der Verfolgung und Verhaftung jüdischer und nichtjüdischer
Freunde der Familie. 1943 wegen Luftangriffen evakuiert nach Garmisch;
1944 Zerstörung des väterlichen Ateliers in München
mit 500 Bildern. In den letzten Kriegstagen Stellungsbefehl und
Flucht nach München. Mitwirkung als Kurier bei der "Freiheitsaktion
Bayern" bis zur Kapitulation. 1945 Neubeginn der Familie,
Atelier des Vaters in Schwabing. Nach einem weiteren Jahr Gymnasium
Besuch der Freien Waldorfschule in Stuttgart, die z.T. schlimme
Erfahrungen in der öffentlichen Schule (Ohnmacht und Minderwertigkeitsgefühl)
überwinden hilft. Bereits mit 14 Jahren Drang zum Schreiben
von Gedichten, kleinen Erzählungen, später Stücke
für das Theater. 1948-50 Ausbildung als Schauspieler an der
Otto-Falckenberg-Schule München. Eine Reihe von Mißerfolgen
lähmt die Entwicklung: Kritiker und Lektoren ignorieren sein
erstes Drama; das erste Engagement in Rendsburg als Schauspieler
bringt nur Nebenrollem; der Versuch mit einer Tragikomödie
endet bei der Uraufführung in Frankfurt/Main als absoluter
Negativ-Rekord. 1952/1953 Verfasser von Texten für politisch-literarische
Kabaretts; Regie am Volkstheater München; ab 1954 Filmkritiker
beim Bayerischen Rundfunk. Vierjährige Auseinandersetzung mit
der Theorie Brechts führt zu dem Entschluß, das Schreiben
aufzugeben. Das Geld reicht nicht mehr für die Miete. Ein Graphiker
bittet ihn um einen Bilderbuchtext. Die Lust am Fabuleren ohne
Plan führt zu >Jim Knopf<, ein Kinderbuch mit fast
500 Seiten, das 1958 fertiggestellt ist. Nach anderthalb Jahren,
abgelehnt von zehn Verlagen, übernimmt Lotte Weitbrecht vom
Thienemann Verlag das Werk, geteilt in zwei Bände. 1960
erscheint Band I >Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer<,
1962 Band II, >Jim Knopf und die Wilde 13<. Band I erhält
1961 den Kinderbuchpreis im Deutschen Jugendbuchpreis. Damit Beginn
als Erfolgsautor: riesige Verkaufszahlen, Übersetzungen in
etwa 30 Sprachen (Stand 1984). 1964 Eheschließung mit
der Schauspielerin Ingeborg Hoffmann. 1970/71 Übersiedelung
nach Genzano bei Rom. Es entstehen der Märchenroman >Momo<
(1973), erneut ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1974.
Mark Lothar komponiert hierzu 1975 die Oper >Momo und die Zeitdiebe<.
Es folgen: >Das Gauklermärchen< (1976), >Die unendliche
Geschichte< (1979), ausgezeichnet mir "Großer Preis
der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach"
(1980) und sieben weiteren Preisen, >Der Spiegel im Spiegel<
(1984), >Der Goggoloori< (1985). Neben Nonsens-Gedichten >Das
Schnurpsenbuch< (1968) und >Die Schattennähmaschine<
(1982) erscheinen noch sieben Bilderbücher, >Das Lumpenkasperle<
(1976), >Lirum Larum Willi Warum< (1978), >Das Traumfresserchen<
(1978), >Der Lindwurm und der Schmetterling< (1981), >Tranquilla
Trampeltreu< (1982), >Norbert Nackendick< (1984), >Filemon
Faltenreich< (1984). Als Ergebnis zeitkritischer Überlegungen
ist >Phantasie/Kultur/Politik< (1982) und als Auswahlband
>Mein Lesebuch< (1983) zu nennen. Neben den bereits angeführten
Preisen erhielt das literarische Werk den Janusz-Korczak-Preis 1981,
den internationalen Preis Lorenzo il Magnifico 1982 und den italienischen
Kulturpreis bronzi die riace (Kiwanis Literaturpreis). >Momo<
und >Die unendliche Geschichte< stehen seit Jahren auf der
Bestsellerliste. Die Gesamtauflage beträgt über drei Millionen
Exemplare (Stand1984). Beide wurden wirksam verfilmt. Nach dem
Tod seiner Frau (1985) ist Michael Ende wieder nach München
zurückgekehrt.
[Ergänzung: Nach langer, schwerer
Krankheit ist Michael Ende am 28. August 1995 gestorben]
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