+ Lemony Snicket "Der schlimme Anfang" -
Stefan Kurt liest Die schaurige Geschichte von Violet, Sunny und Klaus
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1970 wandte sich der Jugendbuchforscher und Germanist Klaus Doderer* gegen Märchen als Kinderliteratur. Wie viele andere Gegner dieser Gattung vertrat er die Überzeugung, daß Märchen Kinder an Bosartigkeit und Grausamkeit, an Schwarzweißmalerei im Sinne einer Verteufelung von Gegnern und Feinden gewöhne, den Aggressionstrieb, den Sadismus fördere und das Kind zu konservativem Denken, zur Anerkennung hierarchischer, patriarchalischer Gesellschaftsformen erziehe. Das Märchen wirke repressiv, indem es Gehorsam, Demut, Unterordnung verherrliche, so der damalige Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung.
Natürlich wollten die Reformpädagogen nach 1968 mit ihren eindringlichen Warnung vor den grauslich-schaurigen, ach so sadistischen Märchen, in deren Fiktionalität sich die armen Kinderchen gänzlich zu verlieren drohten, nur das Beste für die heranwachsende Generation! Doch es ist wirklich erschütternd, welche Blüten der pädagogische Übereifer der 1970er Jahre hervorbrachte - es gibt doch nichts langweiligeres als didaktische Moralerziehung in Kinder- und Jugendliteratur! Oder kennt Ihr ein Kind, daß etwa die Abenteuer des Pinocchio nur wegen der lehrreichen "Moral von der Geschicht`" verschlang?  
Ich wage sogar die Behauptung, daß nur das Spannende, Phantastische und Gruselige für alle Generationen von Kindern einer der Hauptantriebe für das Lesen bzw. Hören von Geschichten war und immer bleiben wird.
Und man kann von Glück sprechen, daß vor allem die Generation der im Jahrzehnt des pädagogischen Wildwuchses Sozialisierten unbeirrt die Tradition wirklich spannender Jugendliteratur fortsetzt: Zu diesen meisterhaften Fabulierern gehört auch Lemony Snicket, ein junger Amerikaner, der unter diesem Pseudonym die schauerliche Lebensgeschichte der bedauernswerten Baudelaire-Waisen Violet, Klaus und Sunny erzählt:
"Wenn du gern Geschichten mit einem Happy End liest, solltest du lieber zu einem anderen Buch greifen. In diesem gibt es kein Happy End, auch keinen glücklichen Anfang und nur wenig Erfreuliches mittendrin. Das liegt einfach daran, dass sich im Leben der drei Baudelaire-Kinder wenig Erfreuliches zugetragen hat. Violet, Klaus und Sunny waren klug, charmant und einfallsreich, sie sahen reizend aus, aber sie hatten äußerst wenig Glück. Im Gegenteil: Fast alles, was ihnen zustieß, strotzte nur so vor Unheil, Elend und Verzweiflung. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber so war es nun einmal."**

Welcher junge Leser widersetzt sich einer solchen Warnung? Gerade jetzt will man natürlich die ganze tragische Geschichte der elenden Geschwister erfahren, ja man ist schon vollkommen gefangen im Bann ihres fürchterlichen Schicksals. Durch den einfachen literarischen Kunstgriff der direkten Kommunikation gelingt es dem Erzähler, seine jungen Rezipienten an die Geschichte zu fesseln, indem er sie zu seinen Mitwissern und Vertrauten macht: Ein einmaliges Leseabenteuer könnte beginnen, wenn man es nicht unbedingt gegen einen Hörgenuß erster Güte vertauschen müßte, um sich von der genialen Sprecherleistung von Stefan Kurt fast 170 Minuten in die "schaurige Geschichte von Violet, Sunny und Klaus" entführen zu lassen! Dem Schauspieler (u.a. bekannt als "Der Schattenmann" im gleichnamigen Fernsehkrimi und als Hauptdarsteller in verschiedenen Inszenierungen von Robert Wilson am Hamburger Thalia Theater) gelingt es mit seiner Stimme in einzigartiger Weise, allen Figuren einen eigenen Charakter zu geben: dem immerzu hustenden Bankbeamten Poe, der liebenswerten, aber naiven Richterin Strauß, dem widerwärtigen Grafen Olaf samt Schauspieltruppe und natürlich den drei Waisenkindern!
Tatsächlich ist die Geschichte brutal, grausam und ungerecht, aber der Erzähler hat uns ja ausdrücklich gewarnt. Allein im ersten Teil "Der schlimme Anfang" der 13teiligen "Dokumentation" des traurigen Lebens der Baudelaire-Geschwister haben es die reizenden und klugen, aber höchst unglücklichen Kinder mit einem "habgierigen, widerlichen Bösewicht, kratziger Kleidung, einem verheerenden Feuer, einer Verschwörung zum Diebstahl ihres Vermögens und kaltem Haferbrei" zu tun. Aber trotz all des Elends, das über Violet, Sunny und Klaus nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern über sie hereinbricht, vermitteln die "schaurigen Geschichten" kein autoritäres Bewußtsein, kein Aufgeben jeden Widerstandes und keine widerstandslose Hinnahme von Not und Unterdrückung, wie dies besorgte Pädagogen und Literaturwissenschaftler in den 1970er Jahr dem guten alten Märchen unterstellten! Vielmehr zeigt Lemony Snicket am Schicksal der Baudelaire-Waisen, daß sich selbst in schier aussichtlosen Situationen mutiger Widerstand lohnt.


Lemony Snicket alias Daniel Handler

Mit "Der schlimme Anfang" beginnt Lemony Snicket alias Daniel Handler ein modernes Schauer-Märchen zu erzählen, auch wenn seine "wahre" Geschichte - wie er sein Pseudonym in fiktiven Briefen an seinen Verleger behaupten läßt - gleichsam eine Umkehrung des klassischen Märchenmusters beansprucht: Daß das unglaublich grausame Schicksal der Baudelaire-Waisen gerade keine realitätsenthobene Erzählung wunderbaren Inhalts sein soll, gehört zur faszinierenden Inszenierung des Autor-Pseudonyms:
"Lemony Snicket wurde vor dir geboren und wird wahrscheinlich auch vor dir sterben. Seine Jugend verbrachte er in der relativen Pracht der Snicket-Villa, die mittlerweile in eine Fabrik, eine Festung und eine Apotheke umgewandelt wurde und zur Zeit leider Gottes die Villa von jemand anderem ist. Dem ungeschulten Betrachter dürfte es so vorkommen, als sei Mr. Snickets Heimatstadt keineswegs voller Geheimnisse. Ungeschulte Betrachter haben sich schon in der Vergangenheit geirrt.
Der Baudelaire-Skandal wurde schnell und brutal abgehandelt und in der Presse seinerzeit nur ungenau wiedergegeben. Es trifft jedoch zu, dass Mr. Snicket von den amtierenden Behörden verschiedene Auszeichnungen aberkannt wurden einschließlich der Ehrenvollen Erwähnung, des Grauen Bandes und der Auszeichnung für den Ersten Nachzügler. Das Hohe Gericht kam zu einem bequemen, wenn auch fragwürdigen Urteil und Mr. Snicket fand sich im Exil wieder.
Obwohl er hauptsächlich in rhetorischer Analyse ausgebildet worden war, hat er in der Vergangenheit viele Jahre damit zugebracht, Nachforschungen über die Mühen und Qualen der Baudelaire-Waisen anzustellen. Dieses Projekt, das in einer Reihe von Bänden bei Beltz & Gelberg veröffentlich wird, führt ihn an die Schauplätze zahlreicher Verbrechen, meist außerhalb der Reisesaison. Mr. Snicket wird immerzu verfolgt und ist unersättlich neugierig, ein Einsiedler und Nomade; trotzdem wünscht er dir nur das Allerbeste.
Da Mr. Snicket sich von einem weltweiten Netz von Verschwörungen eingekreist sieht, kommuniziert er mit der Öffentlichkeit oft durch seinen Vertreter Daniel Handler. Mr. Handler hat bislang ein relativ ereignisloses Leben geführt und ist Autor zweier Bücher für Erwachsene mit den Titeln The Basic Eight und Watch Your Mouth, von denen keines auch nur annähernd so schrecklich ist wie die von Mr. Snicket. Wie letzterer wünscht dir auch Mr. Handler nur das Allerbeste."
***

Vom "schaurigen Schlammasel" der Baudelaire-Waisen wurden bereits sechs Bände (Band 7 & 8 sind in Vorbereitung) bei Beltz & Gelberg und drei Hörbücher bei der Hörcompany veröffentlicht -  außerdem arbeitet Regisseur Brad Silberling  (Stadt der Engel) für Paramount Pictures an der Verfilmung mit Jim Carrey (Der Grinch, Die Truman Show) als Graf Olaf.

War 2003 "Darren Shan", gelesen von Jens Wawrezeck, ein absolutes Muß für jeden Hörspielfan, so gehört "Der schlimme Anfang" für uns schon jetzt zu den absoluten Highlights des Jahres 2004!!

* Klaus Doderer, geboren 1925, ist Professor em. für Germanistik an der Universität Frankfurt und war seit der Gründung 1963 bis 1990 Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung.

** Für den älteren, des Englischen kundigen Leser, ist das Original sicherlich ein wahrer Hochgenuß: "If you are interested in stories with happy endings, you would be better off reading some other book. In this book, not only is there no happy ending, there is no happy beginning and very few happy things in the middle. This is because not very many happy things happened in the lives of the three Baudelaire youngsters. Violet, Klaus, and Sunny Baudelaire were intelligent children, and they were charming, and resourceful, and had pleasant facial features, but they were extremely unlucky, and most everything that happened to them was rife with misfortune, misery, and despair. Im sorry to tell you this, but that is how the story goes." (zitiert nach www.schaurige-geschichten.de)

*** zitiert nach www.schaurige-geschichten.de

Michael


Ungekürzt gelesen von Stefan Kurt
Regie: Angelika Schaak
Aufnahme: Wolfgang v. Henko
Gestaltung: Magdalena Schierling unter Verwendung des Bucheinbands von Dieter Wiesmüller

Copyright & Production: HÖRCOMPANY Schaack und Herzog, Hamburg 2000
ISBN 3-935036-07-8

Das Buch DIE SCHAURIGE GESCHICHTE VON VIOLET, SUNNY UND KLAUS - DER SCHLIMME ANFANG von Lemony Snicket ist erschienen im Verlag Beltz & Gelberg, Weinheim

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